Tag 5: Zusammen seltsam sein

Veröffentlicht am 10. April 2022 um 14:54

Es ist Samstag. Heute finden keine Therapien und Anwendungen statt. Ich habe nur wenig besser geschlafen, als letzte Nacht. Ich glaube, auch das ist ein Teil des Genesungsprozess. Vielleicht kommt der gesunde Schlaf, mit der genesenen Psyche zurück. Täglich werde ich hier mehrfach daran erinnert, dass gut Ding Weil braucht. Unsere Vierergruppe trifft sich zum Frühstück und wir besprechen den Tag. Nach dem Mittagessen wollen wir eine kleine Wanderung von ca. 6,5 km unternehmen. Der Tag lädt zum Spaziergang ein. Es soll ein sonniger Tag werden. Die Oberärztin hat mir Flohsamenschalen, zur Entspannung meines Magens, empfohlen. Ich mache mich gleich nach dem Frühstück auf, in den kleinen Ort. Die Strecke führt durch den Kurpark und gemütlich gehend, brauche ich zwanzig Minuten. Im Reformhaus werde ich fündig.

 Bevor ich mich auf den Rückweg mache, entscheide ich mich noch für einen Cappuccino, in dem kleinen Kaffee gegenüber. „Müßiggang ist aller Laster Anfang“, hat man mir in meiner Kindheit eingetrichtert. Viele Jahre bin ich in einem Tempo durch mein Leben gerast, dass nicht nur mich, sondern auch meine Familie zerrissen hat. Wie schön, dass ich gelernt habe. Jedenfalls jetzt, in diesem Augenblick, genieße ich den Cappuccino so, als ob er das kostbarste Getränk auf Erden wäre. Ich übe mich im Müßiggang.

 Ich möchte dieses langsame Tempo so verinnerlichen, dass ich es am Ende meiner Reha mit nachhause nehmen kann. Ich hatte mein Tempo, aufgrund meines Burnouts im letzten Jahr, schon reduziert. Meine wöchentliche Arbeitszeit beträgt, schon seit letztem November, „nur“ noch 25,5 Stunden. Doch leider scheine ich auch das, in den letzten Monaten, kaum stemmen zu können. Die Asiaten glauben, dass es nicht möglich ist verlorene Energie wieder aufzuladen. Allmählich glaube ich das auch. Trotz weniger Arbeitsstunden fühle ich mich kaum besser.

Auf dem Rückweg denke ich darüber nach, was ich tun kann, um wenigstens die noch vorhandene Energie „aufzufrischen“, zu pflegen und beizubehalten. Mich immer wieder selbst bremsen, inne halten, achtsam sein, auf meinen Körper und die innere Stimme hören…den Müßiggang einschalten! Und dennoch in die Bewegung gehen, eine positive Bewegung. Eine Sportart finden, die zu mir passt. Mein Lebensgefährte ist neben seinem Vollzeitjob noch Fitnesscoach. Er würde mich gerne unterstützen, wenn ich ihn denn ließe. Fitnessstudio, diszipliniertes Training und Bodyforming Kurse sind aber überhaupt nicht mein Ding. Ich mag es nicht, mit vielen Menschen in einem Raum zusammen zu sein und mich über meine Grenzen hinaus zu quälen. Deshalb habe ich mich zum Yoga und Qi Gong angemeldet. Wenn ich es zuhause schaffe, eines davon beizubehalten, wäre das schon ein Erfolg.

Um vierzehn Uhr ziehen wir Frauen los. Es wird ein wirklich sehr schöner Nachmittag, mit wunderbaren Gesprächen und viel Sonne. Jede von uns hat ihre eigene Geschichte, die sie hierher  geführt hat. Ich bin der Meinung, dass die beste Klinik, mit all ihren Therapiemöglichkeiten nichts nützt, wenn man sich einigelt. Der Austausch mit Gleichgesinnten ist mit einer der Lösungsschlüssel, da bin ich sicher. Hier fühle ich mich gesehen und angenommen, mit all meinen Macken. Wir sitzen alle in einem Boot. Auch wenn die Krankheitsbilder und Vorgeschichten oft grundverschieden sind.

Gegen Abend unterhalten wir uns noch mit einem Mann, der unter Long Covid leidet. Es erschüttert mich sehr, als ich höre, wie er 2021 mit der Delta Variante zu kämpfen hatte. Auch über ein Jahr später hat er noch große Luftprobleme. Die Lunge ist dauerhaft geschädigt. Er wird nie wieder in seiner Führungsposition arbeiten können. Demütig und dankbar liege ich abends in meinem Bett und finde lange keinen Schlaf. Das Zitat meines Vorbild Frida Kahlo kommt mir in den Kopf und erscheint mir gerade heute passender als je zuvor: „Ich bin hier und ich bin genauso seltsam wie du.“

 

Fazit des Tages: Sei dankbar für die kleinen Dinge!

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